lingua universalis

ein beitrag aus ausgabe 4
vom 18.07.2021
Verfasst von Kooperation
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Wie würde wohl eine Welt aussehen, in der alle Menschen nur eine einzige Sprache sprechen?

Sprachen gibt es unzählige auf der Welt. Laut Schätzungen der UNESCO gibt es weltweit ca. 6.500 verschiedene Sprachen. Jede:r, Studierende:r, welche:r das Abitur in Deutschland gemacht hat, musste wohl oder übel irgendwann einmal mindestens zwei davon lernen. 

Laut der Bibel und der jüdischen Tora sprachen die Menschen einst allesamt eine Sprache, bis sie im Turmbau zu Babel (Gen 11, 1-9) versuchen einen Turm bis in den Himmel zu bauen. Um dies zu verhindern, sorgte Gott für eine Sprachverwirrung, sodass die Menschen, die an der Baustelle beteiligt waren, sich nicht mehr verständigen konnten und der Bau somit abgebrochen werden musste.

Linguist:innen sind sich heute selbstredend sicher, dass die Vielfalt der Sprachen auf andere Gründe, nämlich die individuelle und unabhängige Entwicklung diverser Völker und die Verschmelzung bereits existierender Sprachen, zurückzuführen ist. So ist die englische Sprache letztendlich ein Resultat aus dem Deutschen und dem Französischen, was sich auch heute noch durch viele Wörter oder Phrasen zurückführen lässt. 

Allerdings hatte die Vielfalt der Sprachen sicherlich auch Nachteile: Oft kam und kommt es zu Missverständnissen und Konflikten aufgrund von Übersetzungsfehlern oder Kommunikationsschwierigkeiten. Ein prominentes, aber oft nicht genanntes Beispiel dafür ist die religiöse Homophobie gegen queere Menschen, die von christlicher Seite stets mit dem Bibelvers Lev 18, 22 begründet wird. Diese Aussage ist sehr wahrscheinlich ein Übersetzungsfehler, begründet dadurch, dass Worte aus Sprache A verschiedene, teilweise mehrdeutige Übersetzungen in Sprache B zulassen. Einige Forscher:innen gehen davon aus, dass mit diesem Vers eigentlich im hebräischen Urtext ein Verbot für Pädophilie statt für Homosexualität ist.

Auch die berühmte und viel zitierte Aussage der französischen Königin Marie Antoinette „Wenn Sie kein Brot haben, dann sollen sie doch Kuchen essen!“ beinhaltet neben einer grob falschen historischen Einordnung (Marie Antoinette sagte diesen Satz niemals und er wurde ihr zugeschrieben, bevor sie überhaupt an den französischen Königshof zog) auch einen Übersetzungsfehler. Sie verwendete niemals den Begriff „Kuchen“ sondern das Wort „Brioche“, was eher einem süßen Weißbrot als einem Kuchen nahekommt.

Alle, die einmal den Deutschunterricht der Oberstufe besucht haben, wissen, dass gerade Sprache immer eine Interpretationssache ist. Was für Lyrik und Liedtexte sicherlich sinnvoll ist, kann an anderen Stellen aber dennoch hinderlich sein. Man könnte sich also die (sicherlich berechtigte) Frage stellen, wie die Welt wohl aussehen würde, wenn alle Menschen nur eine einzige Sprache sprechen würden. Sprachen sind ein Kulturgut. Und genauso wie gilt, materielle Kulturgüter zu schützen und erhalten, sollte dies auch für das immaterielle Kulturgut der Sprachen gelten. Nichtsdestotrotz gibt es Sprachen, die von unzähligen Menschen auf der ganzen Welt verstanden werden:

Die Sprachen der Naturwissenschaften und der Musik.

Jede:r hat wohl schon einmal irgendwo die Noten eines Musikstückes gesehen und jede:r der:die Mal ein Instrument gelernt hat, wird wohl in irgendeiner Form wissen, was die ganzen Punkte und Striche in einer Notation zu bedeuten haben.

 

 

Hier als Beispiel sei Walzer Nr. 2 der Suite für Varieté-Orchester von Dmitri Schostakowitsch, bekannt aus Stanley Kubrick’s Eyes Wide Shut, genannt.

Ziel einer solchen universell Verständlichen Sprache ist immer die Eindeutigkeit. Die Notation soll keine anderen Interpretationen zulassen als die des:der Autor:in.

Auch wenn sich das Aussehen der musikalischen Notation über die Jahrhunderte stark verändert hat, ist das Grundprinzip doch immer das gleiche geblieben: Jeder Punkt steht für einen Ton, die Position zwischen den horizontalen Linien gibt die konkrete Tonhöhe an und je nachdem, ob der Notenkopf ausgefüllt oder nur ein Kreis ist, und welche Notenhälse sich daran befinden, wird der Ton länger oder kürzer gespielt. Die musikalische Notation ist also stets dem Prinzip der Eindeutigkeit treu geblieben. Interessant ist vor allem, das verschiedene Kulturen scheinbar unabhängig voneinander ähnliche Systeme zur Notation ihrer Musik entwickelt haben. Dennoch hat sich seit der Renaissance das Europäische Notationssystem durchgesetzt, was heute weltweit verwendet wird.

Durch dieses universelle Schreib- und Sprachsystem konnte also das Kulturgut der Musik weltweit für jeden Menschen der:die Noten lesen kann, zugänglich, lesbar und spielbar gemacht werden. Die musikalische Notation ist nicht nur universell lesbar, sondern auch universell schreibbar. Jedes Musikstück, das jemals komponiert wurde, kann in Form der oben gezeigten Notation aufgeschrieben und somit konserviert werden.

Das führt unmittelbar zum zweiten Kriterium einer universellen Sprache: Eine universelle Les- und Schreibbarkeit. Eine universelle Sprache muss also in der Lage sein, jeden Sachverhalt eines Gebiets, für das sie konzipiert wird, zu beschreiben.

Die wahrscheinlich älteste Universalsprache der Welt tut genau dies: Die Formelsprache der Mathematik. Egal aus welchem Land man stammt, wohl jeder Mensch, welcher einmal ein Mathebuch aufgeschlagen hat, kennt die Zeichen für Plus, Minus, Mal und Geteilt. Auch wenn sich verschiedene Zahlensysteme über die Jahrtausende gebildet haben, lassen sich die Gesetze der Mathematik zusammen mit ihren Rechenzeichen auf alle diese Systeme anwenden.

 

Mathematische Formel

Diese Gleichung ist wohl oder übel allen Studierenden der Naturwissenschaften schon einmal begegnet. Zu sehen ist hier die allgemeine zeitabhängige Schrödingergleichung, eine der Fundamentalgleichungen der Quantenmechanik.

Auch hier gilt, wie bei der musikalischen Notation, dass jedes Symbol einem ganz bestimmten Zweck zugeordnet ist. Das heißt dass auch hier wieder das Konzept der Eindeutigkeit erfüllt ist. Die Gleichung lässt nur eine einzige Interpretation zu: Nämlich, dass eine Wellenfunktion für ein quantenmechanisches Teilchen eine Eigenfunktion zum Hamiltonoperator ist und die Energie als Eigenwert hat.

Zusätzlich zur Eindeutigkeit, kann in der Formelsprache auch jedes Problem der Mathematik und Physik beschrieben werden und zudem von jeder Person mit Mathematikkenntnissen verstanden und angewendet werden.

Die Menschheit hat sich schon immer dafür interessiert, die Welt, in der sie lebt, zu verstehen. Philosophen der Antike und Naturwissenschaftler:innen der Neuzeit sammeln seit Jahrtausenden ihre Erkenntnisse und haben sie in schriftlicher Form festgehalten. Auch wenn die Texte und Interpretationen der Forschenden Sprachen universell sind, so sind es doch die eigentlichen Kernaussagen ihrer Ergebnisse, welche in Formelsprache festgehalten und für alle Interessierten lesbar sind. Das ist auch eine essentielle Gegebenheit für das Funktionieren von Wissenschaft.

Kein Mensch kann die Welt und das Universum alleine verstehen. Der Erfolg wissenschaftlicher Forschung beruht maßgeblich auf der Kooperation aller Wissenschaftler:innen und auf den Erkenntnissen, die vor unserer Zeit gewonnen wurden. So müssten wir doch immer wieder bei null anfangen, gäbe es keine einheitlichen und allgemein verständliche Aufzeichnungen über die Erkenntnisse unserer Vorgänger.

Dies zeigt sich auch besonders im letzten Beispiel für eine universelle Sprache: Die chemische Formelsprache.

Einer meiner Dozenten begann seine Vorlesung für organische Chemie einmal sinngemäß mit den Worten:

„Das wohl faszinierendste an der Chemie ist unsere Formelsprache, sie ist wie die Sprache der Musik. Jede:r Chemiker:in auf der Welt kann sie verstehen, auch wenn man sich im Alltag nicht miteinander verständigen könnte.“

Die Formelsprache und Nomenklatur der Chemie erfüllt alle bereits erwähnten Kriterien für eine Universalsprache: Sie ist eindeutig, universell verständlich und auf jedes Problem der Chemie anwendbar. Ihren Ursprung hat die Formelsprache der Chemie im Mittelalter. Zu dieser Zeit muss man eigentlich eher von Alchemie als von Chemie sprechen. So waren die Ziele der Alchemie, Blei in Gold zu verwandeln oder den Stein der Weisen herzustellen, von eher mystischer und esoterischer Natur.  Nichtsdestotrotz hat die Alchemie den Grundstein für die heutige Chemie gelegt und essenzielle Grundkenntnisse gleich mitgeliefert.

Auch wenn es im Mittelalter noch lange kein Periodensystem gab, wurden schon damals Symbole für die verschiedenen Elemente, Verbindungen und Prozesse verwendet. Auch wenn dies damals eher aus Gründen der Geheimhaltung geschah, hat sich dieses Prinzip mit gegenteiligem Ziel bis heute durchgesetzt.

 Für jedes Element im Periodensystem gibt es ein korrespondierendes Elementsymbol, bestehend aus ein bis drei Buchstaben. Mit diesem Konzept lassen sich schon einfache Verbindungen und Reaktionen darstellen.

Chemische Formel

Als Beispiel sei hier die Bildung von Wasser aus den Elementen Wasserstoff (H) und Sauerstoff (O) gezeigt. Jede:r Chemiker:in kann aus dieser Gleichung erkennen, dass zwei Wasserstoffmoleküle (H2) mit einem Sauerstoffmolekül (O2) zu zwei Wassermolekülen (H2O) reagieren. Die meisten Verbindungen und Reaktionen sind allerdings nicht von solch einfacher Natur wie dieses Beispiel. Gerade im Bereich der Biochemie oder organischen Chemie muss man sich mit großen Molekülen herumschlagen, bei denen auch noch der genaue dreidimensionale Aufbau entscheidend ist.

Daher wurde die Formelsprache der Chemie erweitert, um diese Problematik vernünftig darstellen und beschreiben zu können.

Auch wenn es im Mittelalter noch lange kein Periodensystem gab, wurden schon damals Symbole für die verschiedenen Elemente, Verbindungen und Prozesse verwendet. Auch wenn dies damals eher aus Gründen der Geheimhaltung geschah, hat sich dieses Prinzip mit gegenteiligem Ziel bis heute durchgesetzt.

Für jedes Element im Periodensystem gibt es ein korrespondierendes Elementsymbol, bestehend aus ein bis drei Buchstaben. Mit diesem Konzept lassen sich schon einfache Verbindungen und Reaktionen darstellen.

Chemische Formel

Zu sehen ist das Molekül des Chinins. Der Stoff wird als Medikament gegen Malaria und als Bitterstoff in diversen Getränken, wie Tonic Water oder Bitter Lemon eingesetzt. Für organische Chemiker:innen sind allerdings nicht alle Atome in dieser Struktur relevant. Der Wasserstoff (H) beispielsweise ist selten relevant. Wenn er also nicht gerade relevant für eine Reaktion oder eine Eigenschaft der Verbindung ist, wird er einfach weggelassen. Getreu nach dem Motto: ‚Wir wissen ja, dass er da ist.‘

Man kann außerdem leicht erkennen, dass das Element Kohlenstoff (C) allgegenwärtig in diesem Molekül vorherrscht. Das gilt übrigens für alle anderen organischen Moleküle auch. Daher spart man es sich auch, den Kohlenstoff explizit aufzuschreiben, denn wir wissen ja, dass er da ist. Für jedes Kohlenstoffatom im linken Bild können wir eine Ecke in den Linien des rechten Bildes sehen. Somit wurde diese ganze komplexe Struktur vereinfacht und ist wesentlich leichter von kundigen Personen lesbar.

Wie in der Musiknotation oder in der Formelsprache der Mathematik gibt es auch in der Formelsprache der Chemie diverse Sonderzeichen und Zusatzsymbole. Denn genau wie normale Sprache entwickeln sich auch die drei vorgestellten universellen Sprachen stetig weiter, um ihre drei Grundsätze zu bewahren: Eindeutigkeit, Lesbarkeit und Übertragbarkeit.

Ob mit diesem Artikel nun die eingangs gestellte Frage, wie wohl eine Welt mit einer einheitlichen Sprache aussehen würde, beantwortet, möchte ich den Leser:innen überlassen.

Worin man aber sicher sein kann:

Zum einen, dass es trotz einer allgemeinen Sprache sicherlich immer noch die bekannten Formelsprachen für die konkreten Gebiete und Probleme geben würde, auch wenn sich eventuell anders aussähen.

Zum anderen, dass Sprache schon immer im Wandel war und dies auch immer sein wird. Sprachen entstanden und starben wieder mit ihren letzten Sprecher:innen. Die UNESCO schätzt, dass bis zu 50% der Sprachen weltweit vom Aussterben bedroht sind. Dies würde bedeuten, dass etwa alle 30 Minuten eine Sprache aussterben könnte. So wie wir auch versuchen, vom Aussterben bedrohte Tierarten und von Zerstörung bedrohte Kulturgüter zu bewahren, sollte dies auch mit den Sprachen dieser Welt geschehen. Denn auch wenn unsere Gesellschaft auf Globalisierung und damit auf wenige Weltsprachen hinzielt oder in der Geschichte Sprachbarrieren, Missverständnisse und Übersetzungsfehler zu Konflikten geführt haben, ist eines allen Sprachen gemein:

Sprachen sind Wissen und Kultur, die es zu bewahren gilt.

 

Jan

Jan

Freier Autor

Jan hat gerade seine Bachelorarbeit im Fach Chemie an der Uni Köln eingereicht (wir drücken ihm die Daumen). Neben seinem Studienfach gilt seine Leidenschaft dem Klavierspielen. Außerdem hat er eine Jahreskarte fürs Disneyland. Jan setzt sich seit Beginn seines Studiums für Vielfalt und Toleranz ein und war direkt Feuer und Flamme, als er von akkuraTH erfahren hat.

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