digitale lehre: vom hörsaal vor die webcam
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Im Sommersemester 2020 mussten Lehrende und Studierende völlig unerwartet vom Hörsaal vor die Webcam umziehen. Und sicher, Home Office hat den großen Vorteil, die Arbeitszeit ohne Hose verbringen zu können. Vielleicht haben ganz hartgesottene Studierende sogar ihre digitale Prüfung unter einem erweiterten Unterhosenradius abgelegt. Wir werden es wohl nie erfahren. Aber das kann nicht die einzige Chance sein, die die digitale Lehre uns bietet.
Was bedeutet das vergangene Semester folglich für die Hochschullehre?
An einigen Stellen wurden Vorschläge laut, die Präsenzlehre vollständig abzuschaffen. Eines der Hauptargumente ist die Barrierefreiheit der digitalen Lehre. Dank technischer Anpassungen ist das bestehende Online-Angebot der Hochschulen heute fast vollständig barrierefrei. Auch die Anpassung der Prüfungsformate hat in vielen Fachbereichen erstaunlich gut funktioniert. Die Kreativität der Hochschulen in der Umsetzung dieser unerwarteten Neuerungen sollte an dieser Stelle auch noch einmal betont und gelobt werden.
Eine Abschaffung der Präsenzlehre würde auch bedeuten, dass die Wohnungsnot in den Universitätsstädten verringert werden kann. Nicht nur die Studierenden, sondern auch das jeweilige Land, können dadurch dauerhaft Ausgaben einsparen. Wenn kein Studierendenzimmer in einer Stadt mit hohen Mietpreisen notwendig ist, werden auch weniger Wohngeldzuschüsse und niedrigere BAföG-Sätze beantragt.
Dabei müssen die technischen Möglichkeiten, an einer Lehrveranstaltung oder Prüfung per Videokonferenz teilzunehmen, trotzdem für alle Studierenden gewährleistet sein: Ganzen Gruppen von Menschen den Zugang zur Bildung zu nehmen, würde die soziale Gerechtigkeit immens untergraben – ohnehin steht diese schon vielerorts auf der Kippe.
In den Hörsaal zurück: Grenzen der Präsenzlehre
Auch in Fächern, die Praktika erfordern z.B. den Ingenieurs- und Naturwissenschaften und im Lehramt kann die digitale Lehre die Präsenzlehre allenfalls ergänzen, aber nicht vollständig ersetzen. Auch die Zusammenarbeit im Team für Projektarbeiten sich durch einen vollständig digitalen Ablauf verändern. Und das möglicherweise nicht unbedingt zum Positiven. Hinzu kommt folgende sozialpsychologische Frage: was würde mit der kommenden Generation passieren, wenn ein Großteil der Studierenden bis zum Studienabschluss oder gar bis zur Promotion bei ihren Eltern wohnen bliebe?
Das könnte schließlich durch die verlängerte Regelstudienzeit, die neuen Herausforderungen in der Schulbildung, aber auch ganz individuell je nach Lebenslauf und -umständen bis weit über das dreißigste Lebensjahr hinaus dauern. In vielerlei Hinsicht ist die Studienzeit auch eine Phase der Selbstfindung. Vor allem bei jenen, die im Augenblick studieren. Berufliche und persönliche Erfahrungen sammeln die meisten Studierenden an der Seite ihrer Kommiliton:innen, die gerade in derselben Lebensphase stecken. Was wird passieren, wenn diese ihr berufliches und soziales Umfeld gar nicht kennenlernen? Abschließend kann man wohl sagen, dass die Chancen der Online-Lehre genutzt werden können und sollten – Bestenfalls ergänzend zur Präsenzlehre. Und wenn es noch keine pharmazeutische Lösung für Covid-19 gibt, dann vielleicht zeitnah eine logistische. Daher bleibt uns allen nichts anderes übrig als abzuwarten. Bis jemand eine bessere Idee hat.
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Hier ist unser Artikel zu digitalen Prüfungen
In der Süddeutschen findet ihr einen Kommentar eines Dozenten der Uni Freiburg
Elisabet Bästlein
Redaktionsleitung
Elisabet versuchte einige Jahre lang vergeblich, ihr Studium der pharmazeutischen Chemie zu beenden. Heute arbeitet sie als Content-Managerin für ein Unternehmen in Bonn. Vor ihrer Studienzeit war sie als freie Journalistin in der Kreisredaktion Nordfriesland des Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlages (sh:z) tätig.