liebes studium, ich muss mich auf meine karriere konzentrieren.

Einsicht ist ein Geschenk.

Gerade im Augenblick geht es für viele, insbesondere viele Studierende, ums Aushalten, ums Abwarten und Durchhalten. Die Pandemie verursacht im Kern keine gesellschaftlichen, sondern vor allem medizinische Probleme. Sie und ihre Folgen machen aber gesellschaftliche und wirtschaftspolitische Probleme sichtbar, die schon viele Jahre da waren. Betroffen sind viele Bereiche im Leben der Menschen. Und für uns als Hochschulmagazin drängt sich die Frage auf, was eigentlich unser Bildungssystem in einer Pandemie so tut. Macht es ein Sabbatical?

Zum Themenbereich Ausdauer gehört auch die Einsicht, dass man die Ziellinie vielleicht nicht erreichen wird. Zum Durchhalten gehört das Scheitern. Und in einer Pandemie, bei einer Bewilligungsquote für Bafög, die bei fünf bis sieben Prozent liegt, und “klassische” Nebenerwerbstätigkeiten wie Gastronomie, Nachhilfe und Einzelhandel wegfallen, wird allein schon aus Existenzangst vermehrt gescheitert. Wie das an einer Hochschule aussehen kann und warum auch dieses Problem nicht durch Covid verursacht, sondern nur zutage befördert wurde, soll hier dargelegt werden. Denn Einsicht ist ein Geschenk.

der demografische wandel und das kleine, naive bildungssystem

Auch mit Corona werden die Menschen immer älter. Macht Sinn, denn das Rentenalter ist allein in der letzten Dekade um drei Jahre nach oben verschoben worden. Weil wir ja immer älter werden, und immer gesünder.

2019 erreichte Deutschland einen historischen Tiefstand in der Arbeitslosenrate. Mit 5% lag sie niedriger als in den gesamten vierzig Jahren zuvor. Aber in diesem Jahr wurde auch ein trauriger Rekord gebrochen: Noch nie hatte es so viele Menschen gegeben, die krank waren durch Arbeit wie 2019. Fehler im System, könnte man meinen.

Krank durch Arbeit kann unterschiedliche Dinge bedeuten. Zum Beispiel ein Bandscheibenvorfall bei einer Postbeamtin, die jeden Tag Pakete verlädt. Sie meldet sich bei der Agentur für Arbeit an und bittet um eine Umschulung. Nun wird sie Altenpflegehelferin und verlädt Menschen, die sich nicht selbst verladen können. Das behebt das Problem bestimmt. Wortwörtlich.

Aber dann hat man natürlich keine bessere Idee, als die Gymnasialzeit noch um ein Jahr zu verkürzen, ohne dabei eine Lehrreform anzuschließen. Also an den Schulen. An den Universitäten wurde durchaus reformiert. Das Diplom ist jetzt ein Master. Aber da man für den Master zuerst einen Bachelor braucht, ist der Master nun ein Zweitstudium, was die Situation für eine finanzielle Förderung ein wenig ändert.

Und das ist nur die formale Seite. Weiter zu den sozialen Themen.

wer fällt durch die maschen?

Das deutsche Schulsystem ist Ländersache. Da werden die Abschlüsse vorgezogen oder eben auch nicht, Leistungskurse angeboten oder es müssen alle das Abitur in Deutsch, Englisch, Mathematik machen. Je nach Bundesland ist ein Abitur mehr oder auch weniger wert. Dabei muss man sagen, dass es in Deutschland die wohl gebildetsten 16-Jährigen in Mitteleuropa gibt.

In Frankreich zum Beispiel ist das Lycée nach der 12. Klasse, der Terminale, beendet, im Schnitt sind die Absolvierenden dann 17 Jahre alt. Wer aber studieren möchte, geht danach in eine weitere Oberstufe, die Préparation, um sich dort mit den Fachbereichen zu befassen, die im Studium relevant werden. Und damit beginnt man in Frankreich ein Studium oft nach 14 Jahren Schule. Nicht, dass das Bildungssystem dort inhaltlich so viel besser wäre als in Deutschland. Aber wir werden doch immer älter, wir haben doch die Zeit! Einsicht ist ein Geschenk.

Dann sind die mündlichen Leistungen ja an deutschen Schulen so ausschlaggebend. Und da fallen so viele durch die Maschen, die zwar die richtigen Antworten haben, aber nicht gern vor anderen sprechen. Es fallen die durch die Maschen, die oft fehlen, weil sie krank sind, und die erhalten schlechtere Noten, einige gehen von der Schule und machen das Abitur nicht.

Die anderen schaffen es bis zum Abitur – und dann?

2017 brach ziemlich genau ein Drittel der Studierenden an deutschen Hochschulen das Studium ab. Fast die Hälfte aller Studierenden wechselten innerhalb des ersten Semesters ihr Fach. Wenn man also dann mit 17 Jahren entscheiden muss, womit man den Rest seines arbeitsfähigen Lebens verbringen möchte, wie geht man vor? 

viele fächer – und welches studiere ich?

Strategie Nummer 1
Man ist jung und unsicher und studiert das Fach, in dem man in der Oberstufe am besten war. Wenn man besonders unsicher ist, studiert man es auf Lehramt. Grundsolide. Für manche funktioniert das recht gut. Allerdings gibt es doch einen recht hohen Anteil junger Lehrer:innen, die Angst vor ihren Schüler:innen haben oder nicht durchschauen, dass Sarkasmus in der Pädagogik (wenigstens bis zur Mittelstufe) nichts zu suchen hat. Ist das also wirklich eine grundsolide, ganz sichere Strategie?

Strategie Nummer 2
Man studiert etwas, was einen immer interessiert hat, zum Beispiel Chemie oder Physik. Gefragte Kenntnisse, damit gute Jobchancen. Wenn man die mathematisch-naturwissenschaftliche Begabung mitbringt, umso besser. Aus Erfahrung kann ich sagen, aus Leistungsgründen fliegt man tendenziell eher selten raus. Aber in den Naturwissenschaften gilt: Egal wie schlau du bist, wenn du faul bist, hast du verloren. Und wenn man nun, wie 98% der Menschen, eher so mittelschlau ist, dann gilt eben außerdem: Wenn du neben dem Studium arbeiten möchtest, hast du verloren. Nicht unbedingt wegen des Lernaufwandes, sondern viel eher, weil man sowohl die Vorlesungen mitbekommen, Übungen einreichen und alles nachbereiten muss, als auch die Laborpraktika bestanden werden wollen. Ansonsten ist man nicht mehr in der Regelstudienzeit, und dann ist Bafög eben auch nicht drin. Wenn nämlich gerade keine globale Pandemie herrscht, hat man von 9-13 Uhr Vorlesung, dann eine halbe Stunde Mittagspause und dann von 13.30-17 Uhr Labor. Je nach Studium ein paar Wochen lang täglich, oder aber einmal die Woche, dafür ganz viele Hausaufgaben für die anderen Tage. Dann nach Hause, nochmal essen, und was arbeitet man dann? Nachtschicht bei McDonald’s? Eine Stunde Nachhilfe?

Strategie Nummer 3
Man macht ein sehr, sehr, sehr gutes Abitur. Auch das geht gut, wenn man schlau ist oder wenn man die Zeit und das Umfeld hat, um fleißig zu sein. Wer in der Oberstufe bereits nicht mehr zu Hause wohnt und sich irgendwie finanzieren muss, hat da möglicherweise einen kleinen Nachteil gegenüber denen, die ein ruhiges Elternhaus haben, in dem sie sich strukturiert und emotional ausgeglichen auf ihre Prüfungen vorbereiten und auf die Inhalte konzentrieren können. Und dann kann man alles studieren, was man möchte, bekommt Stipendien oder hat eben einfach ein Fach, das sich irgendwie gut finanzieren lässt. Medizin zum Beispiel. Auch Jura funktioniert für einige gut, die sich selbst finanzieren wollen oder müssen. Zahnmedizin, Psychologie… Das Übliche eben, das, was nur einige dürfen. Und hier ist die Frage nach der persönlichen Eignung nicht berücksichtigt.

Strategie Nummer 4
Man probiert etwas, probiert eventuell etwas anderes, und dann bricht man ab, weil man es nicht schafft, weil man bereits ausgebrannt ist, oder weil das Geld nicht mehr reicht, oder weil sich der Arbeitsmarkt inzwischen so verschlechtert hat, dass sich ein Abschluss nicht mehr lohnt, besonders, wenn man dann auch noch lange studiert hat. Oder man hat eben doch eine Klausur endgültig nicht bestanden.

Den Königsweg gibt es in den seltensten Fällen, und keines der oben genannten Probleme ist unlösbar. Jedenfalls nicht generell. Aber wenn die Dinge zusammenkommen, kann so ein Problem durchaus der Punkt sein, an dem man sich eben doch gegen das Studium entscheiden muss. Und das ist etwas, was nicht oft thematisiert wird. Bei meinem eigenen Abbruch hätte ich mir gewünscht, dass mehr Menschen über ihre Zweifel und Ängste während des Studiums und auch über ihr Scheitern gesprochen hätten, einfach nur, um zu wissen, dass ich nicht allein damit bin.

liebes studium, es liegt nicht an dir, sondern an mir …

Nachdem man also durch die Schulzeit geprescht ist, sich nach mehr oder weniger reiflicher Überlegung eingeschrieben hat, und dann schlimmstenfalls einige Jahre lang das Gefühl hatte, dass man erstens nicht klug genug für so ein Studium ist und zweitens auch noch immer müde und kaputt ist und es einem nicht wirklich gut geht, denken spätestens vor dem Abschluss viele daran, vielleicht doch Fahrradmechaniker:in statt Ingenieur:in, oder Köch:in statt Chemiker:in zu werden. Manche machen weiter, einige verlassen die Hochschule, um etwas anderes zu studieren oder eben arbeiten zu gehen.

Dann hat man abgebrochen, wie man so schön sagt. Was bei Bewerbungsgesprächen provokante Behauptungen aufwirft wie: “Studienfach XY macht keinen Spaß mehr, und deswegen wollen Sie jetzt bei uns Kaffee kochen?”

Was sagt man da? Liegt es an mir? Sage ich meinem potenziellen neuen Arbeitgeber, dass ich glaube, dass ich dumm bin? Oder dass ich nicht belastbar bin? Oder dass ich nach meinem mittelmäßigen Abitur keine bessere Idee hatte? Dass ich mit meinen 450€ Miete kein Geld mehr für den Semesterbeitrag hatte?

Sieht auf den ersten Blick alles nicht so gut aus. Und ob man ein Studium abbricht oder beendet, ist immer, immer eine Einzelfallentscheidung.

Aber Einsicht ist ein Geschenk. Es ist ein Geschenk, einzusehen, dass man durchaus Stärken hat, das Studium aber eben nicht diesen Stärken entspricht. Es ist auch ein Geschenk, einzusehen, dass es Formen von Belastung gibt, denen man nicht gewachsen ist, oder dass man weder dem Staat noch den Eltern “auf der Tasche liegen” möchte.

Leider erhalten nicht alle Menschen ein solches Geschenk.

welche schwachpunkte es sonst noch im system gibt

Ein Professor, der stolz darauf ist, dass seine Erstsemesterklausuren eine Durchfallquote über 70% haben, sieht nicht ein, dass er damit nicht vermittelt, dass man in seinem Fach einen Standard halten muss. Oder dass diejenigen, die es trotzdem bis zum Bachelor schaffen, deswegen besonders intelligent oder begabt oder fleißig sein sollen. Er vermittelt vor allem, dass es ihm eigentlich egal ist, wie motiviert die Studierenden sind. Er vermittelt, dass er seinen Titel vor sich herträgt und ihm die Wissensvermittlung eigentlich egal ist. Aber wenn er eben an der richtigen Stelle sitzt, wird er davon nicht abgehalten.

Wenn eine Universität bei einem NC-Fach doppelt so viele Studierende im ersten Semester zulässt wie nachher laut Zulassungsbeschränkung graduieren dürfen, weil die Abbruchquote so hoch ist, ist das keineswegs etwas, das den Studierenden Türen öffnet, sondern der Beginn eines extra-schweren Semesters, bei dem diejenigen, die entweder nicht leisten oder dem Druck nicht standhalten, das Fach oder die Hochschule mit dem Fazit verlassen, dass sie dafür zu dumm sind, obwohl sie eigentlich nicht wirklich die Chance hatten, denn es ging von Anfang an nur um Konkurrenz und eben nicht um Kompetenz.

Das nächste Studium können oder wollen ganz verunsicherte, wenn auch intelligente Menschen dann vielleicht gar nicht erst anfangen, oder glauben nach dem ersten Misserfolg direkt, dass sie es sowieso wieder nicht schaffen und am Ende vor dem Nichts stehen werden. Junge Menschen können sehr dramatisch sein, denn wir werden immer älter! Das heißt auch, dass die frühen Lebensphasen irgendwann länger dauern, und die wenigsten sind mit 17 und ein paar Monaten emotional dort, wo 17-Jährige in den 70ern waren (die übrigens in der Regel damals noch nicht studiert haben). Eine “erwachsene” Gelassenheit kann man von den meisten Schulabgänger:innen im 21. Jahrhundert nicht unbedingt erwarten.

Einsicht ist ein Geschenk. Ein Geschenk, das vor allem denen, die an der Gestaltung des Bildungssystems beteiligt sind, offenbar nicht gegeben ist. Das ist schade, und ebenfalls schade ist, dass es immer noch in einigen Bereichen schwer ist, sich Gehör zu verschaffen, wenn man keinen akademischen Abschluss hat. Und auch hier geht es natürlich ums Durchhalten. Und das allein könnte auch eine sehr wirksame Motivation sein, ein Studium zu beenden, auch wenn es anstrengend und frustrierend ist, aber man irgendwie eine Möglichkeit dafür sieht.

Aber wenn es diese Möglichkeit nicht gibt, dann ist es auch ein Geschenk, wenn man einsieht, dass es so ist und man sich einen neuen Weg suchen muss. Es macht aus niemandem eine:n Verlierer:in, wenn man etwas nicht schafft. Es liegt nicht immer, und vor allem niemals ausschließlich daran, dass man etwas nicht so gut kann wie man dachte oder dass man eine Erwartung nicht erfüllen konnte. Es liegt auch daran, dass es in diesem System Bereiche gibt, in denen manche Menschen sich ihren Platz härter erkämpfen müssen als andere. In der Pädagogik ist es für Männer schwieriger, in der Technik für Frauen, in einigen Studiengängen ist es schwieriger für Menschen, die wenig Geld haben und an vielen Stellen hat man ein Problem, wenn man zu einer ohnehin marginalisierten Gruppe von Menschen gehört, Deutsch zum Beispiel nicht die Muttersprache ist, man chronisch oder psychisch krank ist oder eine Beeinträchtigung hat.

Und natürlich haben wir letztendlich alle die Pflicht, es für die künftigen Generationen besser zu machen. Aber ganz persönlich können wir uns dennoch immer für oder gegen unsere Wege entscheiden und frei unsere Lebensentscheidungen treffen. Und von diesem Recht Gebrauch zu machen, erfordert genauso viel Mut, wie sich einer Prüfung im Studium zu stellen und vielleicht durchzufallen. Denn Einsicht ist ein Geschenk, das man annehmen sollte, wenn es einem angeboten wird.

Elisabet Bästlein

Elisabet Bästlein

Redaktionsleitung

Elisabet versuchte einige Jahre lang vergeblich, ihr Studium der pharmazeutischen Chemie zu beenden. Heute arbeitet sie als Content-Managerin für ein Unternehmen in Bonn. Vor ihrer Studien­zeit war sie als freie Journalistin in der Kreis­redaktion Nord­friesland des Schleswig-Holsteinischen Zeitungs­verlages (sh:z) tätig.

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