der große mensch und das kleine virus
2020 – das Jahr, in dem die Welt still stand, ist vorbei. Die Pandemie leider nicht.
Was wir 2020 gelernt haben: Wörter wie Aerosole, Polymerase-Kettenreaktion, Inzidenzzahl und R-Wert. Und natürlich auch, dass nichts während einer Pandemie so wesentlich ist wie ein ausreichender Vorrat an Toilettenpapier. Oder doch?
In der letzten Septemberwoche erklärte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn gegenüber der Deutschen Apothekerzeitung (DAZ)[Quelle], dass die Impfung der Bevölkerung nach Markteinführung eines wirksamen Impfstoffs gegen das Coronavirus mehrere Monate in Anspruch nehmen würde. Eine frühzeitige Markteinführung des lang ersehnten Impfstoffs gegen SARS-CoV-2 unter Umgehung der Phase III-Studien lehne er ab. Mag ja sein. Aber was bedeutet das?
Und dann endlich: Im November 2020 gaben die Pharmakonzerne Pfizer (USA) und Biontec (Deutschland) bekannt, sie hätten gemeinsam einen Impfstoff entwickelt, der zu 90% gegen das gefürchtete Corona-Virus schützen sollte, kurz danach meldete sich ein US-amerikanisches Unternehmen mit einem anderen Wirkstoff und noch besseren Quoten. Was ist da passiert?
Ein Blick zurück: Infektionen in der jüngeren Zeitgeschichte
Die Corona-Pandemie wird gern mit der europäischen Pestepidemie zwischen 1347 und 1352 [Quelle] verglichen. Damals waren Hygienevoraussetzungen viel schlechter als heute, und die Wissenschaft war kaum mehr als der unbestätigte Glaube an Gott und die Heilwirkung von Schwermetallen, deren Wirkung heute als zelltoxisch erwiesen ist. Dahingerafft hat es die menschliche Art allerdings nicht. Ein schönes Argument, wenn man die Tatsache außer Acht lässt, dass der Schwarze Tod 40% der europäischen Bevölkerung das Leben kostete. Heute entspräche das knapp 180 Millionen Todesfällen [Quelle] allein in der EU. Rein numerisch ist also wohl davon auszugehen, dass dieser Vergleich unter Lepra oder Polio leidet – denn er hinkt.
Eine weitere Welle von Infektionskrankheiten, die für die Menschen des 21. Jahrhunderts fernab des Alltags scheinen, suchte Europa vor etwa 130 Jahren heim. An der Berliner Charité arbeiteten Ende des 19. Jahrhunderts einige Ärzte daran, die Infektionskrankheiten Tuberkulose, Diphtherie und Cholera, die damals weltweit zu den häufigsten Todesursachen gehörten, pharmazeutisch einzudämmen.
Einer von ihnen war Robert Koch, Namensgeber des Robert-Koch-Instituts. Er widmete sich dem Erreger der Tuberkulose – und tötete beim Testen eines selbst entwickelten Wirkstoffs beinahe sich selbst und mehrere seiner nächsten Angehörigen. Durch seine Verdienste in der Bekämpfung der vorangegangenen Cholera-Epidemie erlangte er dennoch größeres Ansehen als sein Kollege Emil von Behring.
Behring war der erste Nobelpreisträger für Medizin, der aus dem Blutserum von Pferden ein Heilmittel gegen die bakterielle Atemwegserkrankung Diphtherie entwickelte, welche durch eine ausreichend hohe Impfquote in Deutschland heute kaum noch Probleme macht (das Robert-Koch-Institut verzeichnete im Jahr 2018 bundesweit 26 Diphtherie-Fälle [Quelle, S. 36]).
Ein weiterer Kollege Robert Kochs – Paul Ehrlich – gilt als Begründer der Chemotherapie. Ironischerweise wurde das von ihm entwickelte Chemotherapeutikum nicht gegen Krebs eingesetzt, wie man heute beim Wort Chemotherapie vermuten würde, sondern ebenfalls gegen eine Infektionskrankheit: Die Syphilis. Durch Ehrlichs Forschungen im Bereich der Serumtherapie, aber auch durch seine Untersuchung von Antikörperqualitäten wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert der Grundstein für die moderne Impfung gelegt. Auch Ehrlich erhielt für seine Verdienste in der Infektionsforschung den Nobelpreis für Medizin.
Ways to go: Stationen einer Impfung
Wenn in Deutschland ein Arzneimittel zugelassen wird, muss im Anschluss an die (gemeldete und von Bundesbehörden kontrollierte) Testphase ein Zulassungsantrag eingereicht werden, der vom Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) geprüft wird. Es ist je nach Relevanz und Anwendungsgebiet auch möglich, das Medikament direkt im gesamten Europäischen Wirtschaftsraum zuzulassen – die Vorgehensweise ist dann recht ähnlich, involviert aber andere Instanzen. In Abstimmung mit den Bundesbehörden, marktwirtschaftlichen Faktoren und den Herstellern kommt es außerdem zur Preisfindung des neuen Arzneimittels. Dieser Abschnitt kann bei der Zulassung eines Arzneimittels in den USA abgekürzt werden. Einige Unternehmen beantragen die Zulassung deshalb zuerst in den USA und können das Arzneimittel dann kurz danach auch in Europa einführen.
Dank der Versicherungspflicht in Deutschland zahlt der:die Endverbraucher:in übrigens nur in sehr, sehr seltenen Fällen den vollen Arzneimittelpreis aus eigener Tasche. Im Schnitt dauert die Zulassung eines neuen Impfstoffs zehn bis zwölf Jahre. Nachzulesen sind diese Informationen in den Quellen 5, 6 und 7 [Vorlesungsunterlagen des Moduls „Pharmamanagement“ unter Prof. Dr. med. Yvonne-Beatrice Böhler, F11, TH Köln, SoSe 2020].
Arzneimittelentwicklung auf Zeit
Die Corona-Pandemie hat im vergangenen Jahr nicht nur die Bürger:innen vor emotionale, logistische und wirtschaftliche Herausforderungen gestellt, die 2019 noch völlig undenkbar schienen. Auch die Fachwelt musste ihre Annahmen immer wieder korrigieren.
Innerhalb kürzester Zeit wurde das neuartige Virus erforscht, Behandlungsmethoden erprobt und Konzepte erstellt. Nun endlich scheint die Lösung zum Greifen nahe: Ein RNA-Impfstoff der Firma Biontech mit dem Namen BNT162b2 – und schon klingt eine Folge von Ziffern wie Poesie. Seine Wirksamkeit stützt sich auf eine Studie, die eine Immunisierung gegen den SARS-CoV2-Erreger in 90% der Fälle verspricht. Und die Welt jubelt. [Quelle]
Aber es ist ein Wettrennen. Viele Unternehmen überall auf der Welt suchen nach der Erlösung von der Pandemie und ihren Einflüssen auf unser Alltagsleben. Mehrere Labore sind Biontec und Pfizer dicht auf den Fersen. Und in der Wissenschaft geht immer nur eine:r in die Geschichte ein: Der:diejenige, der:die als Erstes “Hier!” schreit. Oder kennt jemand noch Lothar Meyer? Er hat das Periodensystem entwickelt. Dmitri Mendelejew aber auch. Und der war schneller fertig.
Und wo ist jetzt das Problem?
Gemäß dem Deutschen Pressekodex ist es verboten, in den Medien falsche Hoffnungen bei den Medienkonsumierenden zu wecken. Nun berichten aber alle Medien über die erstaunlichen Erfolge in einer Studie, die zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht veröffentlicht ist. Dieser Artikel verfolgt nicht das Ziel, negative Meinungsmacht zum Thema Impfungen auszuüben – im Gegenteil. Die Geschichte zeigt uns, dass Impfungen ein grundlegender Garant für das sichere Aufwachsen unserer Kinder und die Erhaltung der körperlichen Gesundheit bis ins hohe Alter sein können. Aber trotzdem kommt man vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen nicht umhin, grob nachzurechnen.
Der erste bekannte Covid19-Fall trat im November 2019 auf. Aufgrund der hohen Reproduktionszahl im ersten Risikogebiet Wuhan in China, wurde dann zum Frühjahr mit der Forschung begonnen. Und bis zum April kamen in den deutschen Medien immer wieder Aussagen, die jegliche bisherigen Fortschritte wieder dementierten.
Dann, als die Zahlen im Sommer rückläufig wurden, dominierte die Wissenschaft die Berichterstattung nicht mehr ganz so stark, sondern man sprach mehr von den politischen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie. Die Bürger:innen wussten nur, dass man nach einer pharmazeutischen Lösung suchte.
Bis zum November sind also ungefähr fünf Monate vergangen, und jetzt soll eine Zulassung für einen Impfstoff beantragt werden? Selbst, wenn bis dahin noch weitere Studien stattfinden, können die Wirkung und Immunisierungsdauer der Impfung doch unter keinen Umständen darin berücksichtigt werden. Macht es denn Sinn, die Arbeit von zwölf Jahren in zwölf Monaten durchzubringen?
Ein nicht unwesentlicher Teil der Studierenden neigt dazu, eine Hausarbeit in der Nacht vor dem Abgabedatum zu schreiben. Das Ergebnis ist dann in den allermeisten Fällen nicht so gut wie die Abschlussarbeit, die über mehrere Wochen hinweg erstellt wurde. Müsste demnach nicht eigentlich Qualität vor Tempo kommen?
Würdet ihr euch impfen lassen? Glaubt ihr daran, dass der Impfstoff unbedenklich und wirksam ist? Schreibt uns eure Kommentare an: redaktion@akkurath.com
Elisabet Bästlein
Redaktionsleitung
Elisabet versuchte einige Jahre lang vergeblich, ihr Studium der pharmazeutischen Chemie zu beenden. Heute arbeitet sie als Content-Managerin für ein Unternehmen in Bonn. Vor ihrer Studienzeit war sie als freie Journalistin in der Kreisredaktion Nordfriesland des Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlages (sh:z) tätig.